Start 12. April, 2022

Blau

»Ich will doch einfach nur ein paar Worte«, dachte sich Oskar »nur einen Kuss auf die Stirn oder ein stolzes Schulter­klopfen«. Dieser Gedanke nagt nun schon lange an ihm und er wurde einfach nicht damit fertig, dass es wer weiß, wie lange noch so gehen könnte. »Naja, was soll’s«, beendete er seinen Gedanken­prozess, von dem er gerade zwei Stunden auf dem Bett rollend gequält wurde.

Es war Dienstag. Eigentlich ein Tag wie jeder andere - Deutschunterricht war langweilig, in Mathe verstand er immer noch nichts. Als er nach Hause kam, bat ihn sein Vater um einen Gefallen, den er erledigt und sich dann sofort in sein Zimmer verzogen hatte. Endlich Ruhe. Endlich Pause von der Welt und allen anderen.

Eigentlich müsste er für eine Klausur lernen, aber er hatte keine Lust. Und keine Kraft. Draußen machten die ersten Vögel auf sich aufmerksam, nachdem sie ihren Winterurlaub im Süden beendet hatten. An der Wand hing ein Kalender, daneben eine Uhr aus Holz. Er hatte sie vor dem Umzug entsorgen wollen. Ihr Sekundenzeiger erinnerte ihn immer wieder daran, wie schmerzhaft schnell die Zeit verging.


Aus dem grauen Lautsprecher – links, hintere Ecke des Schreibtischs – klangen ruhige Gitarrensaiten, die von einer sanften Stimme begleitet irgendwas von einem Regenbogen sangen.

»Regenbogen über dem Kopf und bunte Farben, die einen blenden?« Er mochte den Gedanken. Denn so oder so ähnlich wirkten seine Freund:innen auf ihn, die ihn jeden Tag in der Schule oder schon auf dem Weg dahin empfingen. Er war dankbar für sie und es gefiel ihm, wie sehr alle den Mut fanden, sie selber zu sein und sich darin nicht beirren ließen.

Oskar für seinen Teil war recht zurückhaltend. Nicht schüchtern, aber einfach ruhig. Er machte sich nicht viel daraus, immerzu etwas zu sagen und sich in alle Gespräche um ihn herum einzumischen. Er hatte gelernt, dass eine gezielte Wortwahl und pointiertes Sprechen deutlich angenehmer und einflussreicher funktionierten. Ganz abgesehen davon, dass man dadurch auch ein wenig schlauer wirkte.


Schon wieder versunken in seinen Gedanken drückte er seine blaue Decke noch enger an sich, als würde er sie umarmen. Das tat er oft, wenn er sich einsam fühlte. Die eine Seite war hellblau, die andere etwas dunkler. Überall auf ihr verteilt waren leichte Streifen. Mit dem kleinen Schrank neben der Tür war die Bettdecke das einzig blaue in seinem Zimmer.

Er mochte kein blau. Genau so, wie er den Winter nicht ertragen konnte. Sofort spürte man ein Gefühl von Kälte und Unbehagen, Tiefe und endlose Leere.

Kopfüber hing er nun aus dem Bett, denn je mehr Zeit er dort verbrachte, desto außer­gewöhn­licher wurden seine Liege­positionen. Die akrobatische Stellung eröffnete ihm einen Blick unter den kleinen Tisch, der an der Wand orthogonal zu seinem Bett stand. Sein Zimmer war immer auf­ge­räumt, denn sonst konnte er sich schlecht wohlfühlen. Dennoch entdeckte er unter dem Tisch einen kleinen Zettel. So einer, wie sie immer in Glücks­keksen waren. »Stille Wasser sind tief« stand darauf.


Beim Griff nach dem Zettel rutschte er aus dem Bett und landete mit einem dumpfen Rumms auf dem Teppich, der morgens nach dem Aufstehen seine ohnehin schon kalten Füße vor den noch kälteren Fliesen schützte. Also rollte er sich aus der Decke und stand auf, ging zu seiner Pinnwand und hing den Schnipsel neben all die anderen Zitate, die er schon eine ganze Weile sammelte.

Nach kurzem Überlegen hatte er einen Platz gefunden. Begleitet wurde der kleine Zettel nun von den Sprüchen »Don’t change yourself so that other people will like you. Be yourself so that the right people will love you.« und »MAKING ONE PERSON SMILE CAN CHANGE THE WORLD. MAYBE NOT THE WHOLE WORLD, BUT THEIR WORLD.«

Den ersten hatte er mal irgendwo in einer Instagram-Caption gelesen und per Hand auf eine Kartei­karte ge­schrie­ben. Das Magazin, aus dem der andere stammte, stand gegen­über im Bücher­regal.

Sein Mund verwandelte sich in ein Grinsen, nachdem er den Spruch las. Lange hatte er ihm keine wirkliche Beachtung mehr geschenkt, aber er wusste, dass das nicht schlimm war. Denn er hatte ihn verinnerlicht.

Seine Lieblings­beschäfti­gung war es, Menschen zu zeigen, wie sehr er sie mochte, wie viel sie ihm bedeuten und was sie so besonders und einzigartig machte. Manchmal versendete er Posts von Instagram, manchmal steckte er jemandem heimlich kleine Zettel zu, gab ihnen ohne Grund eine Umarmung oder schickte einen Song einfach, weil er ihn grade an die Person erinnerte.

Er versuchte sein Bestes um jeden Tag mindestens eine Person in seinem Leben zum Lachen zu bringen. Denn er wusste, wie viel ein Lachen wert ist. Und wie sich Tage anfühlen, an denen es nichts zum Lachen gibt. Scheinbar schien es auch zu funktionieren, denn er hatte viele Freunde. Sie genossen seine Anwesenheit und seine Seelen­streichelein. Er war immer gut gelaunt und hatte einen amüsanten Spruch auf den Lippen.

Nicht selten wurde er einen Sonnenschein in Person genannt oder erhielt anderweitig Komplimente für seine Art. Oft sehr oberflächlich, dennoch freute er sich. Man mochte ihn und er war leicht zu mögen.

Doch trotzdem lag er dort. In seinem Zimmer. Wieder unter seiner blauen Decke verkrochen, die er eigentlich gar nicht abkonnte und welche nichts­desto­trotz sein einziger Ort zum Wohlfühlen war. »Vergessen die anderen einfach, dass ich auch da bin? Dass ich auch Liebe brauche und ein Lachen—zumindest einmal am Tag?«


Normalerweise versuchte er solche Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen. Es war schon okay so. »Ich komm’ ja auch alleine klar und außerdem habe ich meine Selbstliebe«, versuchte er sich zu beruhigen und streichelte sich sanft über den linken Arm.

Aber irgendwie wollten die dunklen Wolken in seinem Kopf nicht verschwinden. Es tat so unfassbar weh und er wollte, dass es aufhörte. Erst sein kleiner Finger der linken Hand, dann das rechte Augenlid fingen an zu zucken. Wie an einem der alten Spülkästen zog das Lid an seiner Tränendrüse, welche schon bald nachgab und ihm die ersten Tränen über die Wangen kullerten.

Sie rollten wie Steine über seine seichte Haut und er hätte schwören können, ein Platschen gehört zu haben, als die erste Träne die Decke traf. So, als wäre dieser Stein in ein tiefes Becken gefüllt mit Wasser gefallen. Jetzt gab er sich völlig seinen Gefühlen hin—was hatte er auch für eine andere Wahl?

Leises Schluchzen ver­wandel­te sich in fast hysterisches Schreien. Trotzdem war es leise – und in der Decke ganz laut. Ein tragischer Anblick, untermalt von ruhigem Klavier.

»HHHH« machte es, als wäre eine Schwimmerin wieder aufgetaucht, nach dem Ende ihrer Strecke beim Triathlon. Oskar brauchte Luft. Er hielt kurz inne und ließ sich dann rückwärts auf das Bett fallen. So lag er nun da und starrte an die Decke.


!! Trigger Warnung: Selbstmord/Tod


»… So liegt er nun hier.«, beendete der Pastor seine Ansprache. Ein altbekanntes Geräusch zog sich durch die Reihen des unheimlich erdrückenden Raumes, dessen Wände mit jedem Atemzug enger zu rücken schienen. Schluchzen, Weinen. Gesichter in Händen vergraben, Unmengen an Taschentüchern. Sammy hielt Tobias eines hin, welches er kurz danach mit einem aus all seiner übrigen Kraft geformten Lächeln entgegennahm.

Es war, als stünde die Welt still und all Übel der Welt war vergessen. Natürlich spürte man den Schmerz, aber es blieb einfach nicht aus, dass die ganze Trauer überstrahlt wurde von dem Lächeln auf dem Foto, das am vorderen Ende des Raumes hing und Oskar zeigte – mit dem Lachen im Gesicht, das alle von ihm gewohnt waren. »Ich will doch einfach nur ein paar Worte; nur einen Kuss auf die Stirn oder ein stolzes Schulter­klopfen« stand darunter, denn so wollte er es, und so hatte er es in seinem letzten Brief aufgeschrieben.

»Rainbow« von Gatton lief im Hintergrund und um seinen Sarg herum waren zwei Sätze eingraviert: »MAKING ONE PERSON SMILE CAN CHANGE THE WORLD. MAYBE NOT THE WHOLE WORLD, BUT THEIR WORLD.« Denn daran sollte man sich erinnern, wenn man an Oskar dachte. Wie wichtig es ist, ja wie wichtig es für Oskar war, füreinander da zu sein. Wie sehr uns Freund:innen, Verwandte und Familie bedeuten sollten und vor allem, wie bedeutungs­voll es ist, genau das auszusprechen und es unser Gegenüber spüren zu lassen.


Draußen wehte ein leichter Wind. Die Frühlingssonne schien vom Himmel und man hörte Vögel. Diesmal noch mehr. Der Sarg wurde in die Erde gelassen und er bildete einen perfekten Kontrast zum Grün des Gras. Fast so, als würde ein Stück vom Himmel in der Erde verschwinden – denn der Sarg war blau.

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