Start 22. Juni, 2021

Endlich sein können, wer ich wirklich bin

Ich bin 16, schwul, und habe mich endlich geoutet.

Mein Name ist Linus. 16 Jahre alt. Ich lebe schon immer in Hamburg, seit ich 6 bin mit getrennten Eltern. Ich besuche die zehnte Klasse. Anfang 2020 machte ich mich als Designer und Entwickler selbstständig. Beigebracht habe ich mir seit meinem elften Lebensjahr alles autodidaktisch.

Einige meiner Charakter­züge lassen sich ganz gut als introvertiert, hilfsbereit, lern­freudig, empathisch und zielstrebig beschreiben – naja, Letzteres zumindest, wenn es darauf ankommt. Ich möchte ein Mensch sein, bei und mit dem andere sich wohlfühlen, dem man alles anver­trauen kann, weil ich weiß, wie viel das bewirken kann. Ach, und: Ich bin schwul.

_Dieser Text erschien zuerst bei TOMORROW und wurde von Anni überarbeitet. Danke für diese Chance!_

Dass ich nicht auf Frauen stehe, versuchte ich mir lange Zeit auszureden. Aufgrund der hetero­normativen Gesellschaft, in der wir dann ja leider doch noch leben, und der legendären Frage dieser einen Tante, die sich immer und immer wieder danach erkundigt, ob man denn nun endlich eine Freundin hätte. Als ich dann anfing, mir sehr realitätsfremde Tutorials zum Geschlechts­verkehr anzusehen, fiel meine Wahl letztlich doch immer auf Videos mit ausschließlich männlichen Dar­stellern.

Ich bin kein Fan von Labels – damals wie heute nicht – früher aber gab ich mir selbst das Label „bi­sexuell“. Weil ich mich nicht traute, das andere Wort laut auszusprechen.

„Schwul“ galt für einige immer noch mehr als Beleidigung als als sexuelle Orientierung und das machte mir Angst. Außerdem hing ich sehr lange Zeit an einem ganz besonderen—weiblichen, das ist vermutlich wichtig zu betonen—Menschen in meinem Leben, von dem sich meine roman­tischen Gedanken lange nicht trennen wollten.

Das alles ist nun zwei Jahre her—und seit ungefähr einem weiß ich, dass ich ausschließlich auf Jungs stehe.


Mein Outing verlief ganz anders, als ich es erwartet hatte

Zuerst bei meinem Dad, dann bei meiner Mom, die—wie ich eingangs schon erwähnt hatte—getrennt leben. Mein Vater und ich waren im Auto unterwegs nach Hause. Ich unterhielt mich mit ihm über einen etwas homophoben Kommentar, den ich an diesem Abend aufgeschnappt hatte. Er entschuldigte dies mit irgendwas von wegen „ältere Generation“ und „noch ungewohnt.“

Um sich weiter zu rechtfertigen, begann er seinen nächsten Satzen mit den Worten „Außerdem habe ich ja auch einen schwulen Freund.“ Schlagartig schossen mir etliche Gedanken durch den Kopf, mein Herz schlug so doll, wie es das schon lange nicht mehr getan hatte.

Und dann brachte ich die Worte heraus, auf die ich gewartet hatte:

„Du hast auch einen schwulen Sohn.“

Jetzt ist es raus, dachte ich mir. Mein Vater blickte mir direkt ins Gesicht, bis sich dessen Züge in ein warmes Lächeln verwandelten. „Ich dachte es mir,“ sagte er schmunzelnd. Für die nächsten zwei Stunden kam ich aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Kurz darauf packten mich die Zweifel, ob das denn alles richtig so war, als er mich am nächsten Morgen dann aber in den Arm nahm und mir sagte, dass er mich „genau so lieb hat wie immer schon zuvor,“ waren auch diese Ängste gegessen.

Es lief nicht so, wie ich es erwartet hatte, schon gar nicht wollte ich es meinem Dad zuerst erzählen, aber so ergeben sich Dinge eben—willkommen im Leben.


Gut drei Monate später kam der Zeitpunkt, an dem ich es meiner Mutter ebenfalls erzählte. Wir hatten eine dieser typischen Mutter-Sohn-Auseinander­setzung, bei denen es wie gewöhnlich um Ordnung, Hilfe im Haushalt und meine ach-so-dubiosen Freunde ging. Als wir mehr und mehr um das Stichwort „Männerfreundschaften“ kreisten, folgte schließlich ihrerseits die Frage, ob ich schwul sei, die ich mit einem einfach „ja“ quittierte.

Später, bei einem Spaziergang, führten wir ein ausführlicheres Gespräch darüber, welches sehr positiv verlief. Unterm Strich bin ich glücklich darüber, wie gut alles mit beiden meiner Eltern über die Bühne ging.


Endlich frei, erleichtert, aber irgendwie auch ein bisschen unwohl

Denn plötzlich ist alles so neu und anders.

Eine Beziehung, so wie man eine Beziehung eben in vollem Umfang beschreiben würde, hatte ich bisher noch nicht. Auch meine sexuellen Erfahrungen gingen bis dato eher in die Richtung „friends with benefits,“ doch auch das liegt eine Weile zurück. Momentan beschränkt sich das eher auf Dates mit meiner Hand.

Doch das alles ist irgendwie zweitrangig. Die Hauptsache ist, dass ich endlich zu mir stehen und so sein kann, wie ich eben bin.

Das Wichtigste für alle, die diesen Schritt noch vor sich haben und nicht wissen, wie sie ihn gehen sollen, ist, sich Zeit zu nehmen.

Niemand wartet darauf, dass du dich outest. Und es läuft auch keine Sanduhr ab, die es dir irgendwann unmöglich macht.


Sich selbst mögen und akzeptieren zu lernen ist nicht immer einfach, aber das Einzige, was einem langfristig übrig bleibt.

Denn dadurch wird alles einfacher. Der Umgang mit sich selbst und der Umgang mit anderen. Suche dir Menschen, die dich so nehmen, wie du bist, die dich an die Hand nehmen, neben dir laufen und dich in den Arm nehmen, wenn du es am meisten brauchst.

Ich bin sehr dankbar für meine Familie und meinen Freundes­kreis. Sie haben mir Mut gemacht und mich durch den ganzen Prozess begleitet. Das wünsche ich allen.

Ob durch gute oder schlechte Erfahrungen—heute bin ich mehr ich als je zuvor.

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