Start 6. April, 2022

Selbstliebe

Aussagen wie “Du kannst nur andere vollständig lieben, wenn du dich selbst so nimmst, wie du bist”, sind unbestreit­bar wichtige Grund­sätze für das Leben. Die Art, wie sie einem auf Instagram von Halb-Meme-halb-Möchte­gern-Psycho­lo­gie Seiten hinter­her­geschmis­sen werden, lässt aber zu Wünschen übrig. Es fehlt an einer tieferen Ebene, einer Erklärung für “Ja und? Wie mache ich das jetzt?”.

Auch ich will mir nicht anmaßen, die richtige Ansicht zu haben, trotzdem möchte ich mein Wissen teilen und allen Menschen etwas zurück­geben, die mir dabei ge­hol­fen haben, ein besserer Freund für mich zu sein. Eben­so lerne ich weiterhin wo meine Bau­stellen sind, denn auch das Wahrnehmen eigener Fehler ist ein Teil des Prozesses und vollkommen okay.

Wir fokussieren uns (zu) oft auf unsere dunklen Punkte. So nah und lange schauen wir uns an, bis uns noch das kleinste Detail auffällt, das uns denken lässt, wir wären nicht gut genug, nicht schön genug – einfach nicht genug für irgendetwas.


Aus der Nähe sieht man alles genauer—und an uns sind wir eben am nächsten dran

Der Begriff Selbstliebe

Sicherlich sinnvoll ist es zu klären, was dieser Begriff be­deu­tet und mit welchen man ihn besser nicht ver­wech­selt. Denn Selbst­liebe hat weder etwas mit Narzissmus, Ego­is­mus, geschweige denn Selbstver­liebtheit zu tun. Besonders beim Letzten ist es mir wichtig, den Unter­schied klar­zumach­en.

Praktiziert man eine gesunde Form der Selbst­liebe, dreht sich vieles um Akzeptanz. Man ist bemüht, sich selbst zu verstehen und so heraus­zufin­den, was für einen wichtig ist, wo die eigenen Werte, Prinzipien und Grenzen liegen.

Selbstverliebtheit hingegen beschreibt eine sehr egozentrische und überhebliche Art, von und mit sich selber zu sprechen. Oft kann es auch sein, dass es im rücksichtslosen Auftreten und Überschätzen resultiert, was zu Kollisionen im Privaten und Pro­fessio­nellen führen kann.


Eines der größten Gerüchte um Selbst­liebe ist wohl, dass sie Voraus­setz­ung ist, um andere auch zu lieben. Ja, teil­weise. Aber eben nicht komplett.

Egal wie hoch das Level an Selbstliebe einer Person: Wir lieben jeden Tag so viele Menschen, selbst, wenn wir es nicht immer aussprechen. Und das geht und das ist total in Ordnung. Es ist aber wesentlich anstrengender und fordert mehr Kraft. Jede:r liebt. Immer. Und daran wird sich auch nichts ändern.


Stell dir ein Glas vor. Du bist das Glas und das Wasser darin ist deine Selbstliebe. Dieses Wasser brauchst du, um zu funktionieren, um für dich da zu sein, dir deine Misserfolge zu verzeihen und alles anzuerkennen, das du verdienst. All das Wasser, das darüber hinausläuft, ist die Liebe, die du auch anderen geben kannst.

Folglich sollte das Glas immer ausreichend gefüllt sein, bevor du aus deinem endlos auslaufenden Glas auch anderen ein­schenk­en kannst. Klar, manchmal geben wir auch mehr für andere und unser Gefäß verliert an Flüssigkeit. Mal ist das okay. Aber es darf kein Dauerzustand werden [1].

Wenn der Körper und dein Kopf nicht genug Zeit haben, Gefühle und Gedanken zu regenerieren, wird man die Auswirkungen davon sehr schnell spüren. Hören wir richtig zu, haben unsere Körper sehr viel zu erzählen. Besonders, wenn es ihnen nicht gut geht.

[1] Danke an Marsi für die ganzen Gedanken und das anschau­liche Beispiel.


Ich schreibe diesen Artikel auch nicht, um irgend­wem ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er:sie sich noch nicht (so gut) selber lieben kann. Dieser Prozess braucht Zeit. Viel Zeit. Und die darfst du dir auch nehmen.

“Hass dich nicht dafür, dass du dich noch nicht liebst.” @maxrichardlessmann

Ganz im Gegenteil—es ist absolut bewundernswert und etwas, auf das man unfass­bar stolz sein kann, wenn man es auch nur ab und zu probiert. Manchmal klappt es einen Tag in der Woche, manch­mal drei und dann kommen wieder zwei Wochen, die wie eine einzige Grat­wander­ung durch die Hölle sind. Jeder Schritt ist trotzdem einer in die richtige Richtung. Es lohnt sich.

Wie immer ist es auch hier wichtig, nicht auf ein Ende oder Ziel hinzuarbeiten, sondern dem Prozess zu vertrauen. Der Weg ist also das Ziel und jedes Lächeln, wenn man merkt, dass eine Sache an einem doch gar nicht so schlimm ist, ist unbezahlbar.


Sei dein:e beste:r Freund:in

Neben Tipps, wie

gibt es für mich persönlich eine weitere Komponente, die es vorallem im Alltag erheblich leichter macht, sich zu lieben. Sieht man sich selber wie den:die engste:n Freund:in, hat man auch immer ein offenes Ohr, eine Umarmung, ein paar Streicheleinheiten oder—besonders—guten Zuspruch für sich parat.

Oder du probierst mal, dir konsequent jeden Tag min­des­tens ein Kompliment zu machen. Am besten, wenn du dabei vor dem Spiegel stehst und dir ein Lächeln schenkst. Das hilft – versprochen! Ich will gar nicht wissen, wie viel Zeit ich schon vor dieser reflektierenden Glasscheibe verbracht hab…


“[…] Ich arbeitete mit einer Frau, die nach 20 Ehejahren und einer grässlichen Scheidung endlich für ihr erstes Date bereit war. Sie traf ihn online, er wirkte nett und schien erfolgreich und vor allem schien er sie zu mögen. Dement­sprechend aufgeregt war sie. Sie kaufte ein neues Kleid und sie trafen sich in einer teuren Bar in New York auf ein Getränk. Nach 10 Minuten stand er auf, sagte: ‘Ich bin nicht interessiert’ und ging.

Ablehnung ist extrem schmerzhaft. Die Frau war so verletzt, dass sie sich nicht bewegen konnte und rief eine Freundin an. Die Freundin sagte ihr: ‘Was hast du erwartet? Du hast breite Hüften, nichts Interessantes zu erzählen, warum sollte so ein attraktiver und erfolgreicher Mann mit einer Verliererin wie dir ausgehen?‘

Schlimm, dass eine Freundin so grausam sein kann. Aber es wäre weniger überraschend, wenn nicht die Freundin dies gesagt hätte, sondern die Frau zu sich selbst. Wir alle tun das, besonders nach einer Zurückweisung. Wir beginnen an all unsere Fehler und Schwächen zu denken, was wir gern wären, was wir gern nicht wären, wir beschimpfen uns.

Vielleicht nicht so derb, aber wir alle tun es. Inter­essanter­weise tun wir das, obwohl unser Selbstwert bereits beschädigt wurde. Warum sollten wir ihn noch mehr zerstören? Einen körperlichen Schaden würden wir nie vergrößern. Sie würden sich nicht schneiden und sagen: ‘Ja, genau! Ich nehme ein Messer und versuche es noch schlimmer zu machen.‘“

_Diese Text stammt aus einem TED Talk über emotionale Hygiene, den ich wärmstens empfehlen kann._


Nachdem ich dieses Gedankenexperiment das erste Mal hörte, merkte ich in vielen Momenten, dass wir oft unfassbar mies zu uns sind. Aber das brauchen wir gar nicht. Was wir dann brauchen, ist Sympathie und Verständnis für uns. Ein bisschen Selbstliebe eben.

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